Regie: Robert Wiene
Die Mutter aller Horrorfilme in überwältigender Restauration...
Der junge Francis (Friedrich Feher) sitzt mit einem anderen Mann
auf einer Parkbank. Als er eine Frau (Lill Dagover) vorbeigehen sieht,
erklärt er "Das war meine Braut und was ich erlebt habe, ist noch viel
seltsamer als allws, was Ihnen begegnet ist, ich werde es Ihnen
erzählen". In dieser Rückblende tut sich vor dem Auge des Zuschauers der
Vorhang auf in die norddeutsche Kleinstadt mit dem Namen Holstenwall.
Dort ist gerade Jahrmarkt und man sieht das Treiben im Städtchen
verzerrt durch schräge Linien, schiefen Hausfassaden und Wände, geneigte
Ebenen, unklare Wege oder schräg hängende Laternen. Dort lebt Francis
und wird von seinem besten Freund Alain (Hans Heinrich von Twardowski)
überredet sich ins Vergnüngen zu stürzen. Auf dem Jahrmarkt selbst
gehört auch Dr. Caligari (Werner Krauss) zu den Schaustellern und
Akteuren. Vom städtischen Beamten, der ihn sehr hochmütig und mit
Verachtung behandelt hat, bekam er die Genehmigung, dass er sein Medium
Cesare (Conrad Veidt), einen Somnambulen, präsentieren darf. Dieses
zombieartige Wesen verbringt sein Leben in einem todesähnlichen Schlaf
und kann nur durch die hypnotische Beeinflussung seines Meisters
Caligari zum Leben erwachen. Das Publikum nähert sich neugierig. Noch
während der Jahrmarkt im Gange ist, wird der Beamte, der die Genehmigung
ausstellte, tot aufgefunden. Ein grässlicher Mord in der Kleinstadt,
doch Francis und Alain befinden sich im Zuschauerraum und sehen die
Erweckung des geheimnisvollen Mediums. Der Doktor gibt bekannt, dass
Cesare in der Lage ist sowohl in die Vergangenheit als auch in die
Zukunft zu sehen. Alain stellt ihm die Frage "Wie lange lebe ich noch
?", worauf das Medium "Bis zum Morgengrauen" antwortet. Ein Schock im
ersten Moment, doch die beiden jungen Männer glauben der Wahrsagerei
natürlich nicht und treffen auf dem Heimweg die hübsche Jane (Lil
Dagover), in die sich beide Männer verlieben. Sie bemerken es und
beschliessen, dass Jane entscheiden soll, wer ihr Herz erobern kann,
Freunde wollen sie in jedem Fall bleiben. Dann ist Nacht. Am Morgen ist
Alain tatsächlich tot. Wieder mit einem Messer, der zweite Mord innert
weniger Stunden. Francis verdächtigt Caligari und beobachtet ihn. Dieser
wacht neben einem sargähnlichen Kasten, in dem Cesare liegt. Dann
geschieht ein dritter Mordversuch, der in letzter Sekunde von der
Polizei vereitelt wird. War der Verdacht unbegründet ? Jedenfalls sitzt
der vermeintliche Mörder im Gefängnis, aber dennoch wird Jane von Cesare
in ihrem Bett angegriffen...
Am Ende einer wilden
Verfolgungsjagd flieht Caligari in ein Irrenhaus. Francis scheint am
Ziel seiner Ermittlungen im Fall Caligari angelangt zu sein: Es stellt
mit Zeugen fest, dass Caligari mit dem Direktor identisch ist. Mit
Hilfe hypnotischer Beeinflussung wollte der wahnsinnige Wissenschaftler
die totale Manipulierbarkeit von Somnambulen nachweisen. Es bleibt
allerdings ungeklärt, wie aus dem Diretor Caligari werden konnte, der im
18. Jahrhundert in Italien lebte und mit seinem Medium die Dörfer
bereiste. Auch damals gabs immer wieder Morde, die in diesem Umfeld
verübt wurden. Als Francis seine Erzählung beendet hat, geht er in das
Anstaltsgebäude. Er begegnet dort Cesare, dem Direktor, auch seiner
Braut Jane. Der Direktor sieht nun nicht mehr verrückt aus, sondern
macht einen ganz normalen Eindruck. Francis selbst gehört zu den
Insassen des Irrenhaus und unterliegt den dort geltenden Gesetzen der
Realität. Der Direktor erklärt seinen Helfern, dass Franics ihn für
diesen verstorbenen Caligari hält, dass er ihn aber nun, wo er die
Krankheit kenne, den Mann heilen kann...,
Das hervorstechendste Merkmal dieses bahnbrechenden, expressionistischen Stummfilms aus dem Jahr 1920
ist weder die Geschichte noch die Thematik, sondern der Dekor. Ob aus
ökonomischen oder künstlerischen Beweggründen, es war jedenfalls ein
gewaltiger Schritt von den üblich naturalistischen Bauten zu dieser
völligen Künstlichkeit der Welt des Doktor Caligari. Die Ausstatter
Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig waren Mitglieder der
Berliner "Sturm" Gruppe und machten aus der finanziellen Not der Decla
Filmgesellschaft eine innovative Tugend. Sie erstellten statt
aufwendiger Kulissen aus Pappe, Leinwand und Sperrholz eine
unnaturalistische Alptraumvision. Dadurch, daß alles irreal, gestaucht,
kubistisch, schief, eben anders erscheint, akzeptiert man als Zuschauer
selbst einen Jahrmarkt, der eigentlich nur aus einem Leierkastenmann,
einem Treppengeländer, einigen angedeuteten Zelten, zwei stilisierten
Karussells, diversen durchs Bild strömenden Statisten und einem gemalten
Hintergrund besteht. Zur Amtsstube im Rathaus führen kafkaeske, endlos
erscheinende Korridore. Autoritäten sitzen auf absurd hohen Stühlen,
Schatten auf Wänden und Gesichtern sidnd aufgemalt. Besonders das
fingerdicke Makeup von Conrad Veidt wirkt enorm geisterhaft.
"Das
Cabinet des Dr. Caligari" ist ein Film von Robert Wiene aus dem Jahr
1919 und wurde bei seiner Uraufführung 1920 zum riesigen Kinoerfolg. Als
Sensation galt, dass nun die Kunst Einzug in das noch neue Medium Film
gehalten hatte. Aus diesen Grunde wurde der deutsche Film der Weimarer
Republik weltberühmt und drohte Hollywood den Rang abzulaufen. Es
enstanden weitere Meisterwerke wie "Der Golem" (1920, Carl Boese, Paul
Wegener), "Nosferatu" (1922, F.W.Murnau) oder "Metropolis" (1927, Fritz
Lang). Auch Jahrzehnte später ist der Einfluss dieses Kino-Frühwerks in
der Filmgeschichte noch zu spüren - er ist so etwas wie der Archetyp des
Psychothrillers, der tief in die Abgründe der Seele blickt und auch
lange nicht alle seine Geheimnisse preisgibt. Sogar Martin Scorseses
"Shutter Island" dürfte sehr stark von diesem Meisterwerk inspiriert
worden sein.
Der Expressionismus selb ist eine den Anfang des
20. Jahrhunderts prägende Kunstrichtung. Durch die Vereinfachung der
Formen und den Einsatz von kräftiger, kontrastreicher Farbgebung war es
eine Gegenbewegung zum Realismus, Naturalismus und Impressionismus. Im
Grunde eine Kunst des gesteigerten Ausdrucks. Die Erben dieser Filme
können in den beiden Genres Film Noir und Horrorfilm angesehen werden.
Am Ende erscheint die Handlung unwirklich, da sie sich scheinbar als
Hirngespinst eines Insassen einer Nervenheilanstalt entpuppt. Doch diese
Erklärung steht auf brüchigem Boden, da es offensichtlich ist, dass
hier auch Autoritäten attackiert werden und die Figuren des Films Mühe
haben mit der eigenen Identität. "Wer bin ich ? " steht allgegenwärtig
im Raum und auch die bange Frage, wer das Gegenüber ist.
Siegfried
Kracauer zog 1947 in seinem einflussreichen Buch "Von Caligari zu
Hitler" eine interessante sozialpsychologische Parallele zwischen dem
Filmstoff und dem aufkommenden Nationalsozialismus. So sieht er in
Caligari eine der vielen Tyrannen-Figuren des Weimarer Republik. Die dem
Drehbuch von Janowitz und Mayer durch Regisseur Robert Wiene
hinzugefügte Rahmenhandlung interpretierte Kracauer als einen Akt
politischer Verdrängung, da er die angebliche Intention des Films in
sein Gegenteil verkehrt habe. Mit der Umkehrung der Rolle des
Wahnsinnigen und des Gesunden sei die Autorität in Form Dr. Caligaris
wieder bekräftigt worden. Für den Autor selbst, der die Allmacht der
Staatsgewalt anprangern wollte, war Calgari das Symbol einer
schrankenlosen Macht - die durch Militärdienstpflicht und
Kriegserklärungen über Leben und Tod von Untertanen bestimmen können.
Cesare dagegen das Bild des zum willenlosen Werkzeug abgerichtete
kleinen Mannes und Francis fungiert als Vertreter der Vernunft und würde
zumindest in eine positive Zukunft deuten, wenn da nicht Wienes fieser
Widerhaken am Ende wäre, der Rätsel aufgibt.
Auf Grundlage des
im Filmarchiv des Bundesarchivs erhaltenen Kameranegativs hat die
Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung eine digital restaurierte Fassung des
Films in einer hochauflösenden 4 K-Version geschaffen. Die
digitale Bildrestaurierung führte die in Bologna ansässige L´Immagine
Ritrovata - Film Restoration & Conservation in den Jahren 2012 und
2013 aus, der Film erstrahlt somit jetzt in einem großartigem Glanz, wie
es ihm auch gebührt.
Bewertung. 10 von 10 Punkten.
Hi Ray, dieses große Meisterwerk der Filmgeschichte habe ich tatsächlich und ungelogen vor ein paar Wochen zum ersten Mal gesehen! Unglaublich und unglaublich gut, besonders in der restaurierten Fassung.
AntwortenLöschenIch danke Dir bei der Gelgenheit auch für deine netten Abschiedsworte auf meinem Blog, ich bin aber natürlich nicht aus der Welt und lese auch bei Dir regelmäßig weiter, das ist ja klar. Was das aktuelle Kino angeht, ja, ich bin halt in den letzten Monaten/Jahren so oft enttäuscht worden und habe auch irgendwie den Anschluss verpasst. Mit jetzt schon Mitte 40 (schluck) gehöre ich ja für viele Filme auch nicht mehr zur Zielgruppe, und wenn ich einen tollen Hitchcock, Wilder oder Lubitsch sehe, weiß ich, dass die Zeit von solch grandioser Unterhaltung vorbei ist. Fast noch bedauerlicher finde ich, dass auch das Arthouse-Kino mittlerweile so formelhaft geworden ist. Vom Blockbuster-Kino ist man das ja gewohnt. Vielleicht ist eben auch jede Geschichte tatsächlich schon erzählt. Macht aber nix, denn einen "Psycho" kann ich auch noch 500 weitere Male anschauen. Und da ich vor einiger Zeit auf Blu-Ray umgestiegen bin, kann ich jetzt immerhin schon oft Gesehenes noch in neuer Form genießen, das ist auch toll. :-) Bis demnächst, liebe Grüße, Mathias
Ich hab "Das Cabinet" des Dr. Caligari auch erst vor kurzem zum ersten Mal gesehen und war begeistert - denn er steht auf einer Stufe mit Murnaus "Nosferatu". Was natürlich auch Hoffnung gibt, dass auch der Fundus an Klassikern noch nicht ganz aufgebraucht ist. Man kann soviel gutes, altes noch entdecken und kennenlernen. Und ja...diese Klassiker guckt man gerne ein zweites, drittes Mal...die neuen Filme sind nach einmaliger Sichtung in vielen Fällen abgehakt. Hoffen wir das der Wind sich mal wieder dreht in ein interessanteres Kino mit weniger 3D und Effektehascherei. Auch das Arthaus Kino war schon besser, da gebe ich Dir Recht...es ist leider so derart korrekt und mehrheitsfähig geworden, wenig provokatisches, aneckendes ist zu entdecken.
AntwortenLöschenLG Ray